Wenn Systeme wackeln
Lotta ging noch in die Grundschule, als ihre Mutter eines Tages mit verheultem Gesicht in der Küche stand, als sie aus der Schule kam. Lotta hatte damit gar nicht gerechnet, denn die letzten Wochen war sie oft alleine, wärmte sich das Mittagessen auf und verschwand hinter ihrem Berg aus Büchern.
Heute war das wider erwarten anders. Lottas Mutter hatte seit wenigen Wochen endlich wieder einen Job gefunden und darüber war die ganze Familie sehr erleichtert. Sie hätte heute genauso wie gestern auf Arbeit sein müssen. Lotta wunderte sich und verstand nicht, was passiert war. Gleichzeitig hörte sie die Stimme ihres Vaters aus dem Wohnzimmer, laut, aufgeregt und wütend. Er hatte heute Nachtschicht und war mürrisch und unausgeschlafen, wie so oft, wenn er die Last der Arbeit und den mangelnden Schlaf nicht verdauen konnte. Das hatte Lotta schon gelernt, weshalb sie meistens direkt im Kinderzimmer verschwand und ihm so aus dem Weg ging.
Nachdem Lotta ihre Schultasche im Zimmer abgestellt hatte, schlich sich auf leisen Sohlen in die Küche, um die Reste ihres Pausenbrotes im Kühlschrank zu verstauen. Ihre Eltern waren mit sich und ihren Sorgen beschäftigt, so dass sie Lotta nicht bemerkten. Sie hörte ihre Mutter schluchzend leise fragen: “Warum?”
Ihr Vater hatte sein Gemüt etwas beruhigt und versuchte seine Frau zu beruhigen, was ihm leider nicht gelang. Er wirkte selbst ratlos und überfordert. Er gab sich die Schuld daran, dass seine Frau wieder ohne Job da stand. Entlassen hatte man sie. Entlassen, weil er es gewagt hatte einen Brief zu schreiben. Einen höflichen Beschwerdebrief. Wieder eine Niederlage, besser Klappe halten und im Strom mitschwimmen, hörte Lotta ihn resigniert sagen.
Lotta belastete das sehr, ihre traurige Mama und Papa, der auch keinen Rat wusste. Lotta verkroch sich im Kinderzimmer hinter ihren Hausaufgaben, so wie sie es schon oft getan hatte, wenn daheim dicke Luft herrschte und sie nicht zu den Großeltern fliehen konnte. Draußen auf dem Hof spielen wollte sie nicht, es war Januar kalt und grau und die Kinder ihrer Klasse hatten sie gerade zum Opfer erkoren. Mit wem hätte sie also spielen sollen.
Irgendwann hörte sie das leise Tropfen des Kaffeemaschine in der Küche und roch den Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee. Die Mutter rief zum Essen. Da saßen sie am Tisch und ein grauer Schleier der Resignation und Hilflosigkeit lag in der Luft. Ihrer Mutter kullerten noch immer kleine Tränen über das Gesicht. Lotta konnte das nicht ertragen, sie wollte das alles gut wird, alle wieder lachen und sie endlich einmal gemeinsam in den Urlaub fahren. Vielleicht an die Ostsee. Sie kramte in ihrer Hosentasche und holte den 5 DM-Schein heraus, den sie am Anfang der Woche als Taschengeld bekommen hatte. Das erste eigene Taschengeld! Darauf war sie sehr stolz, auch wenn sie noch nicht so recht wusste, was sie sich kaufen sollte. Vielleicht ein Buch. Bücher liebte sie, sie konnte so der Welt entfliehen.
Lotta legte das Geld auf den Tisch und sagte zu ihren Eltern, die überrascht schauten: “Davon können wir etwas zum Essen kaufen. Ich brauche es nicht.”
Als Lotta abends im Bett lag, konnte sie nicht einschlafen. Sie war traurig, ihre Eltern so unglücklich zu sehen. Sie hatte sie lieb. Und in dem Moment war ihr klar, dass sie lernen möchte, lernen und studieren, um es später einmal besser zu haben als ihre Eltern. Sie hatte schon oft mit ihrem Vater abends die Tagesschau gesehen. “Ausnahmsweise!” hatte er immer gesagt. Er wollte ihr erklären, wie die Welt funktioniert. In der Tagesschau sprachen oft Politiker. Sie wollten etwas gegen Armut tun. Soviel hatte sie verstanden. Aber sie hatte nicht verstanden, weshalb ihre Mutter heute wieder weinen musste, sie wieder keine Arbeit hatte. Und was sie noch viel weniger verstand, weshalb man seine Meinung nicht sagen darf. Nicht laut. Wieso wegen der Kritik ihres Vaters ihre Mutter keine Arbeit mehr hatte. In dieser Nacht beschloss Lotta, die Welt zu ändern. Wenn sie groß ist und ganz viel gelernt hat. Dann wollte sie mit den Politikern, die sie aus dem Fernsehen kannte reden und ihnen ganz viele Fragen stellen.