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Poetry

Traumtänzer

Außer Atem und mit hochrotem Kopf stand er endlich vor den Regalen mit Büchern, deren Titel er kaum auszusprechen vermochte. Er ließ sich auf den Stuhl sacken, den er in einer Ecke entdeckte. “Puh, warum ausgerechnet ganz oben!” schnaubte er, sein Puls auf 180. Stufe für Stufe hatte er sich die schier nicht enden wollende Treppe hinaufgequält. Aufzug? Nein, dass verbat ihm sein sportlicher Ehrgeiz. Und wenn er eins beherrschte, dann doch wohl Ehrgeiz und Disziplin.

“Hach ja, ich war auch schon mal fitter”, rutsche es ihm raus. “Suchen Sie etwas? Kann ich ihnen helfen?”, fragte eine zarte Stimme vorsichtig. Vor ihm stand eine junge bezaubernde Frau und schaute ihn leicht verwundert, aber vor allem besorgt an. Er richtete sich auf, nahm Haltung an. Instinktiv zog er seinen Bauch ein, sein Jacket spannte etwas. “Ja, Madame Bovary”, entwich es seinen Lippen. “Oh, ein Romantiker” sagte sie schmunzelnd und lächelte verschmitzt. “Bleiben sie ruhig sitzen und ruhen sie sich aus, ich hole es ihnen flink.” “Wollen sie nicht ihren Stapel Bücher ablenken, ich passe auf sie auf, so schnell renne ich nicht weg” sagte er laut lachend. Erst jetzt entdeckte er, die zwei großen bunten und glitzernden Reifen, die sie an ihrem linken Arm trug während sie einen riesigen Stapel Bücher jonglierte. “Lassen sie mir ihre Hula Hoop Reifen ruhig auch da, dann kann ich meinen alten Körper wieder in Schwung bringen,” fügte er augenzwinkernd hinzu. Er liebte diese Reifen. Früher als er noch im Training stand, genoss er die bewundernden Blicke der jungen Damen und das Glitzern in den Augen der Kinder. Seine Gedanken gingen auf eine Reise, so wie er es bis vor wenigen Jahren selbst getan hat. Damals als er als Balletttänzer auf den Brettern gestanden hatte, die die Welt bedeuten. In Montréal hatte er getanzt, am Broadway und einmal sogar war er mit dem Russischen Staatsballett auf Tournee. Jetzt saß er hier, müde von den vielen Stufen. Ein wenig eingerostet über die letzten Jahre und beobachtete all die jungen Menschen in der Bibliothek, die flink und leichtfüßig durch die französischen Klassiker tanzten und den leidenschaftlichen Rhythmen der lateinamerikanischen Autoren folgten.

Da funkelten und glitzerten ihn die Reifen an, die seine zufällige Retterin neben ihm abgestellt hatte. Er verspürte dieses Kribbeln in seinen Zehenspitzen, so wie früher. Er fasste sich ein Herz. Durchgeatmet hatte er und wer rastet, der rostet, so seine Maxime. Er lugte kurz um die Ecke, um sich zu vergewissern, dass er alleine war, nahm die beiden Hula Hoop Reifen und begann seine Hüften zu schwingen. In ihm steckte noch immer der Tänzer. Die Hula Hoop Reifen zogen ihre Kreise und ein Lächeln flog über sein Gesicht. Er fühlte sich wieder jung, auch wenn es hier und da im Knie und in der Hüfte etwas zwickte. Er hatte gar nicht gemerkt, dass seine Retterin schon mit einem Stapel Bücher zurück war. Und nicht nur sie, mittlerweile hatte sich eine kleine Gruppe am endlegendsten Fleck der Bibliothek versammelt. Sie schauten ihm bewundernd zu. Ihm, dem in die Jahre gekommenen alten Mann, wie er leicht beschwingt und elegant seine Hüften kreiste und die Reifen in Bewegung hielt. Als er sie entdeckte, lies er vor Schreck die Reifen zu Boden fallen. Sie lächelten ihm aufmunternd zu und riefen: “Applaus! Applaus!”